Im folgenden Manifest artikulieren die Seitenstechen-Herausgeber Joseph Felix Ernst und Philip Krömer mit belletristischen Mitteln das Programm ihrer Literaturzeitschrift. Der Text erschien zuerst in Narr – Das narrativistische Literaturmagazin #20.
Seitenstechen ist eine Möglichkeit. Eine andere wäre gewesen, den Aufzug zu nehmen.
Am Ende der Stiege eine Türe, daran in silbernen Lettern: Seitenstechen. Dahinter die Bibliothek des Wahnsinnigen, durch deren unterste Magazine die Tatzelwürmer kriechen und die Buchrücken mit ihrem feurigen Atem schwärzen. Das der Grund, warum die Signaturen nicht mehr zu lesen sind, und das wiederum der Grund, warum der Wahnsinnige dem Wahnsinn anheimfiel. – – Bevor er sich ganz der Literatur widmete, war er ein Mann von klarem Geist und robuster Konstitution, einer, der zu großen Hoffnungen berechtigte. Heute ist er für alle nur noch »Der Wahnsinnige« und lebt zurückgezogen in seiner Bibliothek, deren Baupläne Escher akribisch nachzeichnete. Die Literatur als Wille der Vorstellung. Seiner wie unserer.
Es mag überraschen: Seitenstechen schmerzt nicht.
Seitenstechen repräsentiert unser Verständnis nicht nur von guter Literatur, sondern vom bewussten Umgang mit ihr. Das Buch, welches obenauf liegt, ist nicht das interessanteste, nur weil es neu ist oder durch viele Hände gegangen. Das Buch, welches obenauf liegt, muss aber auch nicht schlecht sein, nur weil es neu ist oder durch viele Hände gegangen.
Joanne K. Rowlings Geldbeutel ist dicker als der der Queen und Dantes Geist (nicht sein Körper!) liegt unter einem statuenumlagerten fünf Meter hohen Kenotaph in der Santa Croce von Florenz. Cervantes hatte bei seinem Tod nur noch sechs seiner Zähne im Mund, Roald Dahl keinen einzigen, dafür ein strahlend weißes künstliches Gebiss. Alles eins!
Seitenstechen ist eine Ansammlung von Möglichkeiten. Geist und Körper werden wie Kleidungsstücke gewechselt. Der Morgenmantel hängt an der Stange neben der Abendgarderobe hängt neben dem Blaumann hängt neben dem Taucheranzug hängt neben dem Mantel des unverwechselbaren und unverbesserlichen Zampano.
Jetzt aber Schluss mit lustig! Nächster Akt! Bellt der Dompteur und knallt mit der Peitsche. Wir springen.
Über 3000 Jahre seit Gilgamesch in einem einzigen Umbruch.
MSS Seitenstechen prangt in monumentalen Silberlettern auf dem Bug des intergalaktischen Kreuzfahrtschiffs, das über Neuschwanstein am Himmel hängt.
»Kapitän!«
»Maat?«
»Die Passagiere wollen runter, die Besatzung wird ihrer kaum noch Herr. Ludwigzwo gibt seine letzte Party.«
»Vergnügungssüchtiges Pack! Dabei kommen wir doch erst aus Carthago (deleta est)!«
»Sie geben keine Ruhe. Man drohte mir bereits mit der Forderung nach Teilerstattungen.«
»… So werf er den Anker und lass er sie.«
Man beamt sich (mich dich) hinab unter die Gäste der Feier, mitten hinein in den glitzernden Festsaal. Homer, der kein Eunuch ist, bringt diesen Umstand auf einem Tisch stehend allen Anwesenden zur Kenntnis. Oh (er ist keiner)! Georg Heym zieht die Schuhe aus und schlittert strümpfig ums Buffet, um allen zu zeigen, wie gut er Schlittschuh läuft. Der Artmann, »Artmann, alter Kumpel. … Wo ist er jetzt wieder hin?« Nämlich unter einen Tisch geschlüpft, an dem die Damen in hysterisches Gekicher ausbrechen.
Ihrer sind viele, eine Meute bunter Hunde: schweigsame Fräuleins, polternde Greise, trotzige Jünglinge, verzweifelte Bohémiens und sie alle alle alle spielen das gleiche Spiel zur gleichen Zeit, saufen Champagner aus riesigen Kelchen oder zupfen Weintrauben von den kunstvoll arrangierten Reben, tanzen Foxtrott Walzer Quadrille Ringelrein oder derwischen einen Totentanz aufs Parkett.
»Alles eins!«, kreischt Ludwigzwo und mischt sich ins Treiben, weil er kann und möchte.
Das Können und das Möchten.
Seitenstechen ist ein Ausschnitt und ein Abbild der gesamten Literatur. Ein Ausschnitt, da die Literatur als Ganzes eine monströse Bibliothek erforderte (die eines Wahnsinnigen). Ein Abbild, da Mis en abyme (ein Abbild im Abbild des Abbilds). Alles eins!
Kreischt Ludwigzwo, nachdem die Gäste abgereist sind und die Säle leer bis auf die Flecken im Musselin, die nicht mehr rausgingen. Alles eins und er denkt daran, heute mal wieder runter an den See zu fahren. »Gudden, kommst du?«
Die MSS Seitenstechen havariert zwischen zwei Absätzen (dem vorhergehenden und diesem), die Bibliothek des Wahnsinnigen stürzt ihm über dem Hirn zusammen und wir sind allein mit unseren verbleibenden 1000 Anschlägen.
Hinterlässt Büchersucht körperliche oder soziale Schäden am betroffenen Individuum? Jede Bibliothek ein Bahnhof Zoo der Leser, Glück und Elend zwischen zwei Buchdeckeln? Alles verschwimmt, der Zweizeiler wird zum Epos und das Epos zur Randnotiz, zum Bonmot, zum Aphorismus. Alles verschwimmt, alles eins und Ludwigzwo treibt in Ufernähe mit dem Gesicht nach unten im flachen Wasser. Letzte Luftblasen zerplatzen um seine Schläfen.
»Wenn ich einen Glauben hätte, so würde dieser Glaube die Berge versetzen können«, heißt es bei Klabund (dem verzweifelten Bohémien). Wir von Seitenstechen glauben – – an die Literatur, an ihre Leser und ihre Wahnsinnigen (uns und euch). Und wir treten ein für sie, Anwälte der Hoffnung, wir versetzen ihre Berge, bis keiner mehr an seinem gewohnten Platz ist. Aktuell oder ein Klassiker, kunstvoll arrangiert oder platt, berühmt oder ein Geheimtipp. Wir bejahen die Vielfalt und sagen: Alles eins! Alles rein!
Seitenstechen ist eine Möglichkeit. Eine andere wäre gewesen, ein anderes Buch aufzuschlagen.
Die Ausschreibung zur dritten Seitenstechen-Ausgabe mit dem Thema »Menschenfresser der Liebe« findet man hier.