Lektoreninterview: Joseph Reinthaler & Philip Krömer

Nazis, Island und germanische Riesen: Mit seinem Debütroman Ymir oder: Aus der Hirnschale der Himmel präsentiert Autor Philip Krömer ein faszinierendes, »angenehm aus dem Mainstream fallendes Lesevergnügen« (Nürnberger Nachrichten).

Im Gespräch mit Joseph Reinthaler (JR) verrät Philip Krömer (PK) Details zu der Konzeption des Romans und seiner Arbeitsweise:

JR Ich kenne von einigen deiner Texte einen Rahmen, der dem Leser eine Erzählerinstanz vorstellt. Bei dem Open-Mike-Siegertext 2015 erzählt ein Automat die Geschichte. Bei Ymir wird der Leser vom Erzähler regelrecht in Empfang genommen und dadurch zum Zuhörer. Was macht für dich diese Erzählerinstanzen so interessant bzw. notwendig?

Portrait Philip Krömer
Foto: Silviu Guiman (www.silviuguiman.com)

PK Für mich ist auch das schriftliche Erzählen ein mündliches. Wer meine Texte liest, neben dem sitze ich auf dem Sofa, um ihm die Betonung einzuflüstern (Wir fállen aus állen Wólken.). Damit er davor nicht erschrickt, kündige ich mich auf der Metaebene an.

JR In der nordischen Mythologie ist der Riese YMIR so etwas wie das Urwesen – aus seinem Körper formt sich die Welt. Warum formt sich die Welt aus einem Körper? Was macht uns zu Eingeweiden?

PK Die Welt formt sich nicht selbst aus seinem Körper, sie wird geformt. Auf ziemlich grausame Art und Weise, nämlich von drei mordlustigen Göttern: Sie erschlagen Ymir, der nichtsahnend an UrKuh Audhumblas Euter nuckelt, und kneten sein totes Fleisch zu Erde, füllen mit seinem Blut die Meere auf, schichten Knochen zu Bergen, pflanzen Haare als Bäume und stülpen über das Ganze die entkernte Hirnschale (siehe das Grimnirlied). Wir Menschen leben dort, weniger als Eingeweide – denn ein toter Riese braucht keine 7 Milliarden Nieren –, sondern als Aasfresser, die von seinem monströsen Leichnam zehren. Wir tragen nicht zur Erhaltung des status quo bei, sondern zum ewigen Kreislauf von Entstehen und Zerfall. Jeder ist sich selbst ein Riese.

JR Eine Naziexpedition in Island irgendwo zwischen Jules Verne und Indiana Jones. Warum taugt der Nazi zur fantastischen Adventure-Figur?

PK Der Nazi ist in der Fantastik als Antagonist so beliebt, weil er 1. hin und wieder tatsächlich okkultem Gedankengut anhing und 2. seine menschenverachtende Ideologie der traurige Beweis dafür ist, dass eine komplette Nation in einer widernatürlichen Kunstwelt leben kann, ohne den Bruch mit der Realität wahrzunehmen. Wir könnten auch alle Zauberer sein. Der Nazi als Protagonist dagegen ist die Ambivalenz in Person: Man weiß, sein Handeln ist grundsätzlich falsch – das war so, das wissen wir. Da braucht es nicht die tiefenpsychologische Erklärung, die verunglückte Kindheit. Dennoch wollen wir sein Handeln verstehen. Als Autor ist es eine Herausforderung, eine derart eindeutige und vorgezeichnete Figur nicht zur Schablone verkommen zu lassen, sie bis an ihr verdientes Ende oder ihre Läuterung zu führen. Wir wünschen uns nichts mehr, als dass alle endlich zur Vernunft kommen.

JR Dein Debütroman ist ein Abenteuerroman – wie schreibt man im 21. Jahrhundert Abenteuerliteratur? Haben die großen Vorreiter des Genres nicht schon alles erforscht?

PK Ist Ymir, indem er seine Abkunft nicht versteckt, postmodern? – Möglich. Oder schon postpostmodern? – Möglichmöglich. Die Abenteuerliteratur hatte ihre Hochzeit, solange die Weltkarte weiße Flecken aufwies. Homer, Rabelais, Verne, … füllten diese Leerstellen mit ihren Erzählungen. Heutzutage kann sich jeder jeden Winkel der Erde von zuhause per Satellitenbild anschauen, doch das Verlangen nach Abenteuern ungewissen Ausgangs, einer Möglichkeit, jenem heimischen Bildschirm zu entkommen, der einem die ganze Welt zeigt (und erklärt), ist nach wie vor ungebrochen. Man sagt: Zuhause sterben die Leute. Die Abenteuerliteratur verschafft gedanklichen Ausgang, sie zeigt alte, bereits gefüllte weiße Flecken, findet oder erfindet neue. Niemals wird alles erforscht sein, bis der Mensch seine eigenen Gedanken und Regungen vollends verstanden hat – was wiederum nie passieren wird. Die ersten literarischen Erzählungen waren Abenteuergeschichten, so wie auch die letzten es sein werden. Ymir schildert das Erste und das Letzte – ein Abenteuer.

JR Wagner spielt eine wichtige Rolle in deinem Roman. Ich rechne fest damit, dass er auch fester Bestandteil deiner Arbeit am Text war. Irgendwelche grausamen Erfahrungen / Erinnerungen?

PK Wie zu den meisten anderen Lebens- und Weltentwürfen in Ymir (Hohlwelttheorie, nordische Mythologie usw.) habe ich auch zur Musik Wagners eine zwiespältige Haltung. Faszination und Skepsis stehen sich unversöhnlich gegenüber. Dies als Auswahlkriterium (den Dvořák z.B. höre ich immer gerne, der war unbrauchbar). Beim notwendigen Rauf- und Runterhören von T & I gab es also Leidensmomente im positiven wie negativen Sinn: Gänsehaut über Minuten hinweg, verschnürte Kehle, feuchte Augen. Und plötzlich parlieren sie wieder szenenlang vor sich hin, man schaut auf die Uhr, ins Textbuch, puh, da kommt noch was.

JR Die Abbildungen aus einem medizinischen Lehrbuch des 19. Jahrhunderts spielen analog zur Erzählung mit der Grenze von Deutbarkeit und Undeutbarkeit. Macht das die Illustrationen austauschbar? Oder gibt es nur die eine mögliche Anordnung?

PK Es gibt nur die eine. Es sei denn, man nähme sich eine Schere, schnitte die Bilder aus und ordnete sie neu zu und neu an. Dann hätte man aber auch den umseitigen Text zerschnitten und verschoben. Und wir sind nicht Burroughs, nein, der sind wir nicht.

Wir bedanken uns herzlich beim Autor! Weitere Informationen zu Ymir finden Sie hier:

Philip Krömer: Ymir oder: Aus der Hirnschale der Himmel