Lektoreninterview: Philip Krömer & René Frauchiger

Korrupte Grenzwächter veranstalten Menschenjagden auf Flüchtlinge und ein talentierter Pizzabäcker findet seine Bestimmung. Riesen sind nur große Menschen, der Debütroman des jungen Schweizer Autors René Frauchiger, ist beißende Satire, mitreißendes Abenteuerbuch und kluges Erzählexperiment in einem.

Autor René Frauchiger. Foto: privat.

Im Gespräch mit Lektor Philip Krömer (PK) gibt René Frauchiger (RF) Einblick in die Welt des Romans und in seine Arbeit:

PK In deinem Roman lässt du die Figuren wie in einem Dokumentarfilm oder einer Reality-TV-Show Szenen kommentieren und aus dem Nähkästchen plaudern. Warum hast du dich zu diesem erzählerischen Kniff entschieden?

RF Es ist doch so: fast alle aktuellen Romane funktionieren immer noch wie eine Schulstube vor siebzig Jahren. Wenn du damals in ein Klassenzimmer getreten bist, dann hast du vorne den Lehrer gesehen, vielleicht sogar mit einem Stock und vielleicht sogar erhöht oder hinter einer Art Stehpult. Die Schülerinnen und Schüler sitzen ordentlich und aufrecht auf ihren Stühlen. Es ist der Lehrer, der bestimmt, wer wann über was reden darf. Die Klasse spricht nicht mit, sie wird aufgerufen.

Das Ganze kommt uns heute recht altertümlich vor. In heutigen Schulen versucht man zumindest, dass die Schülerinnen und Schüler einen Freiraum erhalten, selbst mitreden können, Eigenverantwortung übernehmen.

Doch in unseren Romanen weht immer noch der gleiche Wind wie in den Schulen unserer Großeltern. Wir haben eine allwissende Respektsperson (Erzähler, Erzählerin), die sagt, wo es langgeht. Die Figuren im Buch haben wenig zu sagen, sie werden ab und zu aufgerufen, ihnen werden Aufgaben ausgeteilt und das wars.

Müssen die Figuren in einem Buch autoritär regiert werden? Was passiert, wenn wir ihnen mehr Rechte geben (so wie heute unseren Schülerinnen und Schülern)? Diese Fragen haben mich fasziniert – und daher kommt auch die etwas seltsame Form und Struktur des Romans.

PK Immer wieder im Verlauf der Handlung prallen die Lebenswelten von Dorfbewohnern und Großstädtern aufeinander. Stehen sich diese beiden Welten unversöhnlich gegenüber?

RF Ich bin in einem kleinen Dorf aufgewachsen. Am äußersten Rand, der Region, die man auch im Ausland als »das Emmental« kennt und die vor allem für die Löcher in ihrem Käse berühmt ist. Heute lebe ich in Basel, einer Stadt an der Grenze zu Frankreich und Deutschland. An manchen Tagen führen mich meine Spaziergänge durch drei Länder. Diese Gegensätze haben mich geprägt und finden sich auch im Roman wieder.

PK Der Achilles der griechischen Mythologie stirbt durch einen eigentlich unmöglich präzise abgefeuerten Pfeil, der ihn tödlich in die Ferse trifft. Der Achilles deines Romans wäre der Einzige, der einen solchen Treffer überhaupt landen könnte. Wie geht das zusammen?

RF Selbst wer sich nicht für griechische Mythologie interessiert, kennt »Achilles«. Man kennt ihn wegen der »Achilles-Ferse«. Der Krieger Achilleus hatte nämlich eine Schwachstelle, unten beim Fuß war er verletzbar, und natürlich wurde er am Ende durch einen Schuss genau in die Ferse getötet.

Wenn heute ein Fußballer eine so klare Schwachstelle, eine Achilles-Ferse, hätte, würde man ihn kaum fürs WM-Final aufstellen. Warum wurde Achilles trotz seiner Ferse überhaupt in den Krieg geschickt? Zudem noch während einer der wichtigsten Schlachten in der Mythologie: dem Kampf um Troja?

Wer so frägt, missversteht Achilles.

Achilles, einer der größten Krieger des Altertums, war so gut wie unverwundbar. Man konnte ihn nur an einer einzigen Stelle verletzen, ganz unten am Fuß. Die Achilles-Ferse ist nicht Zeichen seiner Schwäche, sondern Zeichen seiner Stärke. Jeder Mensch ist an der Ferse verwundbar, aber Achilles ist nur an der Ferse verwundbar.

Oft werden die Leute wegen irgendeiner Schwäche auf die Ersatzbank geschickt, wenn man jedoch genau hinsieht, sind ihre »Schwächen« ihre eigentlichen Stärken. Und genau das muss unser Achilles im Roman zuerst erkennen.

PK Während des Lektorats hatten wir überlegt, dem Roman den Titel »Abenteuerroman« zu geben, doch ist uns Gerhard Henschel da zuvorgekommen. Welche Bedeutung hat das »überlebensgroße« Abenteuer für die Protagonisten des Buchs?

RF Im Buch gibt es Schießereien, Verfolgungsjagden und Entführungen, das war aber nicht der Grund, weshalb »Abenteurerroman« auch gut als Titel gepasst hätte, denk ich. Vielmehr sollen die Leserin und der Leser in eine Welt geworfen werden, in der sie nie wissen, was sie hinter der nächsten Seite erwartet.

PK Das Personal deines Romans grübelt viel über die richtige Beziehung, den richtigen Job, das richtige Leben. Warum gibt er trotzdem keine Antworten?

RF Ja, jetzt haben wir lange über »Erzähler« und »mythologische Figuren« gesprochen, der Kern der Geschichte sind jedoch seine Figuren. Wir haben einen Lastwagenfahrer, eine Büroangestellte, Lulu arbeitet in einem Tankstellenshop und Jacquette testet Routen für Flüchtlinge. Sie alle haben ihre Probleme. Probleme in der Liebe, Probleme im Job. Das größte Problem ist jedoch, dass sie schlicht keine Ahnung haben, wo ihr Leben genau hinführen soll. Manche finden mehr darüber heraus, wer sie sind und was sie tun wollen. Nur die endgültige Antwort auf alle Lebensfragen findet niemand. Wie wir auch im realen Leben nie alle Antworten erhalten – leider.

PK Zuletzt: Warum konnte nur ein Schweizer Riesen sind nur große Menschen schreiben?

RF Der Nationalheld der Schweiz ist Wilhelm Tell. Der Bauer Tell schießt mit seiner Armbrust den Herrscher vom hohen Ross herunter, das war seine Heldentat. So wie Tell haben es die Schweizer immer gehalten. Die Schweizerinnen und Schweizer misstrauen allem, was zu groß oder zu mächtig wird. Es gibt in der Schweiz keinen Präsidenten wie in Frankreich oder eine Kanzlerin wie in Deutschland. Die Schweiz wird von sieben gleichberechtigten Bundesrätinnen und Bundesräten regiert. Wir haben nicht einmal eine Hauptstadt. Bern ist lediglich der »Sitz der Regierung«. Du findest in der Schweiz kaum Statuen von berühmten Personen, ja nicht einmal auf unseren Geldnoten findest du heute Bilder von »herausragenden Persönlichkeiten«, stattdessen sind irgendwelche Hände und Berge abgebildet. Die Schweiz ist eine Demokratie in allen Bereichen des Lebens. Eine Herrschaft des Kleinen. Wenn es einen Satz gäbe, den alle unterschreiben könnten, dann: Riesen sind nur große Menschen.

Wir bedanken uns herzlich beim Autor! Weitere Informationen zu Riesen sind nur große Menschen finden Sie hier:

Cover | René Frauchiger: Riesen sind nur große Menschen
Riesen sind nur große Menschen.