Eine vertraute Landschaft, eine völlig fremde Welt

Interview mit Tobias Roth, Herausgeber von Realien aus der guten alten Zeit.

Herausgeber Tobias Roth.

Wie bist du zu Joseph von Hazzi gekommen – oder er zu dir?

TOBIAS ROTH: Hazzi ist zu mir gekommen, und zwar durch Recherchen über meinen Heimatort, zu dem es nicht rasend viele Quellen gibt, und der in der betreffenden Zeit, um 1800, an Bedeutungslosigkeit kaum zu übertreffen ist („vorzüglich hässlich ist der Anblick jener unfruchtbaren und verödeten Fläche“ heißt es entsprechend bei Hazzi). Da merkte ich dann beim Nachschlagen schnell, wie riesenhaft Hazzis Statistische Aufschlüsse sind – und dass er eben zu Orten etwas sagt, zu denen sich sonst kaum jemand äußert.

Spekuliere mal für uns: Was glaubst du, war Joseph von Hazzi für ein Charakter? Er scheint ja nicht gerade zurückhaltend.

TOBIAS ROTH: Das scheint er in der Tat nicht. Ich vermute, er ist jemand, der sich aus dem Ethos der Wahrheitsliebe heraus selbst mit hohen Ansprüchen fordert, sich etwas abverlangt, aber sich gleichzeitig auch hin und wieder die ein oder andere Entgleisung, das ein oder andere Poltern gönnt – weil es ja eben wahr ist! Man spürt beim Lesen den Ordnungswillen, die Strenge, die Genauigkeit, all die Zahlenreihen in der immer gleichen Form, aber zugleich endet mancher Satz in der Prosa mit drei Ausrufezeichen. Wir können natürlich nicht wissen, ob Hazzi die Wahrheit tatsächlich so bedingungslos liebte, wie es scheint, aber dass er die Wahrheitsliebe liebte, das ist, denke ich, sonnenklar. Das ist der nötige Anfang. Ich vermute, Hazzi ist grundsätzlich nicht gesprächig, aber kann dennoch sehr lange reden, wenn er einmal anfängt; ein Optimierer, ein Bastler, ein Experimentator. Seinen Alterssitz verwandelte er in einen Modell- und Musterbetrieb. Ein sportlicher Garten. Vermutlich ein abwartender Beobachter, aber auch jemand, der körperliche Arbeit schätzt. Vermutlich. Und kein bisschen fromm. Offene Augen dafür, dass die Welt aus Atomen und Leere besteht.

Joseph von Hazzis neunbändige „Statistische Aufschlüsse ueber das Herzogthum Baiern“ – für den Leser des 21. Jahrhunderts: nostalgisch oder verheerend?

TOBIAS ROTH: Ganz klar verheerend. Ich kann mir irgendwie niemanden aus dem 21. Jahrhundert vorstellen, der im 18. Jahrhundert leben möchte – bei Beibehaltung des Standes, versteht sich. Als Spross von Dienstboten aus einem Dorf in der Nähe Münchens möchte ich auf keinen Fall das Jahrhundert tauschen; und der reichste Mensch von Bayern heute (wer auch immer das ist) mit seinem Superlativkollegen wohl auch nicht. Die Aussage, dass früher alles besser war, bezieht sich nur auf die Ontogenese, nicht auf die Phylogenese; da geht es um Jugend, nicht um Vergangenheit.

Cover | Joseph von Hazzi: Alltag und Elend im Herzogtum Bayern
Realien aus der guten alten Zeit. Alltag und Elend im Herzogtum Bayern.

Daran anschließend: Gibt es ihn noch, den Menschen, der von der „guten alten Zeit“ schwärmt, oder sind wir bereits zur Genüge aufgeklärt und ernüchtert über den Sumpf und die Grausamkeiten der Vergangenheit?

TOBIAS ROTH: Ich glaube, dass wir heute ein ganz gutes Gespür dafür haben, wie grundlegend die Unterschiede sind – aber dennoch lohnt es, sich vor Augen zu führen, was Elektrizität, Penizillin und dergleichen für Wirkung entfalten. Nichtsdestotrotz – selbst wenn niemand in der Vergangenheit leben will, liegt dort, in der Vergangenheit, auch irgendwo das Paradies. Die Denkfigur ist, glaube ich, noch sehr verbreitet. Wenn ich einen schlechten Tag habe, wenn die Welt mir eine Zumutung ist, dann sehne ich mich nach einer Zeit, als es diesen schlechten Tag, diese Zumutung noch nicht gab. Weiter weg kann ich die Zumutung nicht wünschen. Ob allerdings die Grausamkeiten der Vergangenheit diejenigen von heute übertreffen, da wäre ich gar nicht so schnell sicher.

Was ist für dich explizit bayerisch? Landschaft, Lebensgefühl, Menschenschlag, Dialekt – oder bloß ein eingegrenzter Raum mit eigenem Wappen?

TOBIAS ROTH: Das ist schwer zu sagen – weil ich in Oberbayern geboren wurde, bildet es an so vielen kleinen Pegeln der Weltwahrnehmung mein Normalnull, dass ich mich scheue, es zu benennen, es mit Begriffen zu nennen. Wahrscheinlich wären es am ehesten einzelne Handlungen, Splitter. Wie es eine Zier aller bayerischen Regierungen aller Zeiten, Gustav Landauer, sagt: „Klarheit gibt es eben nur im Lande des Scheins und der Worte; wo das Leben beginnt, hört die Systematik auf.“ Hazzi selbst hingegen sagt es sehr diplomatisch: „Ich habe auf mehreren Reisen die meisten Völker Europens kennen gelernt, und ich darf es laut sagen, wir haben uns bei allen unsern Fehlern und Mängeln eben nicht zu sehr zu schämen.“ Ich fürchte, er hat nicht immer recht damit.

Das Bayern Joseph von Hazzis ist ja ein ausgesprochener Unort. Er startet als kurpfalz-bayerischer Beamter eines sehr zerstückelten Herzogtums mit Besitztümern bei Köln und endet als königlich-bayerischer Beamter eines Landes mit völlig veränderten und sich weiter verändernden Grenzen. Was ist denn das für ein Ort, das Bayern um 1800?

TOBIAS ROTH: Genau dafür müssen wir Joseph von Hazzi selbst befragen, ihn lesen. Aber dass sich viel ändert in dieser Zeit und es viel rumpelt, das ist klar. Das Herzogtum Bayern, das Hazzi statistisch erfasst, ist deutlich kleiner als der Freistaat, ohne Franken und Schwaben. Es ist ein Land, das durch geschickte Politik nach oben kommt, das Bündnisse zur rechten Zeit schließt und aufkündigt. Es klingt teilweise grotesk, wenn man sich die Größen- und Längenverhältnisse klarmacht. Etwa: um 1800 herrscht das Haus Wittelsbach seit bereits 600 Jahren, also geradezu zehnmal so lang wie die CSU, das ist unvorstellbar, das ist dantesk. Oder: die französische Revolutionsarmee, die an München vorbeizieht, um die Österreicher in Hohenlinden zu schlagen, ist dreimal so groß wie die Stadt München, die 1800 um die 40.000 Einwohner zählt. Wie fühlt sich das an, wenn eine solche Armee durchzieht?

Wodurch unterscheidet sich das Bayern aus Joseph von Hazzis Aufschlüssen von unserem heutigen – anders gefragt: Was würde Joseph von Hazzi so heute nicht mehr vorfinden und beschreiben?

TOBIAS ROTH: Diese Unterschiede alle im Detail zu entdecken, ist eine Freude des Textes, der ich nicht vorgreifen möchte. Aber um ein Detail herauszugreifen, das mich sehr zum Nachdenken gebracht hat: Hazzi bemerkt an mehreren Stellen das Problem, dass es in Bayern zu viel Wald gibt und zu wenige Menschen.

Und nun die spannendere Variante: Was ist gleich geblieben – außer die teuren Mieten in München, die schon bei Hazzi eine Erwähnung wert waren?

TOBIAS ROTH: Es dürfte ihn sehr irritieren, dass in Bayern immer noch dem Namen nach Christen an der Macht sind. Und er würde es wieder und wieder und immer noch scharf in den Blick nehmen und jeden Missbrauch, jedes Aufflackern des Aberglaubens aufs Schärfste ahnden.

Warum sollte man heute – gut 200 Jahre später – die Berichte eines kurpfalz-/königlich-bayerischen Beamten lesen?

TOBIAS ROTH: Hazzi ermöglicht einen Blick in eine völlig vertraute Landschaft, die in einer völlig fremden Welt liegt. Man kann den Kulturschock genießen – auch und gerade als Bayer, als Schock von der eigentlichen Kultur. Durch die Fülle der Realien erhält man ein wichtiges Kontrastmittel, das man spritzen kann, wo immer jemand von den alten, den jahrhundertealten Traditionen des christlichen Abendlandes spricht. Man kann es sich zu Gemüte führen, wie Christen traditionell miteinander umspringen, wie die Oberen gegen die Unteren stehen. Man bekommt einen reichen Bilderbogen mit Gründen und Motiven an die Hand, worum es in der französischen Revolution und in anderen Revolutionen von unten gegen oben ging, man sieht, kurz gesagt, welche Lebensqualität Absolutismus erzeugt. Man sieht die berühmten schönen Rokokoklöster anders, wenn man vom Leben derer liest, die sie tatsächlich erwirtschaftet haben – und das macht sie auch nicht weniger schön, bemerkenswert. Man kann das Buch heute als eine historisch-groteske Motivationsschrift benutzen: Wo immer man schockiert ist über die Zustände, die Hazzi beschreibt, mache man sich klar, woran es fehlt (ob nun Bildung, ärztliche Fürsorge, Chancengleichheit, etc.), und schöpfe Kampfgeist und Schubenergie, weil es davon nie genug geben kann.

Weitere Titel mit Joseph von Hazzi:

Postkartenset Bayern mit Kraftsätzen des Joseph von Hazzi
20 urbayerische Postkarten. Die ganze Wahrheit über Bayern
Cover: Der literarische Bayern-Kalender 2020
Der literarische Bayern-Kalender 2020. Realien aus der guten alten Zeit