Lektoreninterview: Philip Krömer & Ulrich Holbein

Krachsymphonien und kosmische Kindergärten. Ulrich Holbeins erster Roman Knallmasse, der im homunculus verlag in einer vom Autor überarbeiteten Neuausgabe vorliegt, erzählt die Geschichte eines Roboters auf der Flucht sowohl vor den Häschern eines autoritären Maschinen-Systems als auch vor seiner eigenen Künstlichkeit. Eine »aufregende, wunderschöne Reise« (booknerds) und »eine zeitlose Parabel über die Möglichkeit und Unmöglichkeit, das Fremde zu erkennen und anzuerkennen.« (Zeilensprünge)

Verleger und Lektor Philip Krömer (PK) befragte Ulrich Holbein (UH) zur Entstehung des Romans und dessen Kosmos.

PK Der Staat des Dröhnens und das Kunterbunte Weltall. Finden sich Spuren dieser beiden gegensätzlichen Welten auch in der unseren?

UH Haufenweise.

PK 1993 erschien Knallmasse zum ersten Mal, optisch und inhaltlich ein Kinderbuch. Was hast du während deiner Überarbeitung geändert?

Cover: Knallmasse von Ulrich Holbein
Cover der homunculus-Neuausgabe

UH Aus Ärger über die neue Rechtschreibung hab ich das blecherne Haustier Stößel, damits nicht Stössel heißen muß, in Stöpsel umgetauft. An die Handlung hab ich nicht gerührt, außer ein Minimum an Erotica eingeschleust. Steife Substantivierungen, gegen die ich inzwischen allergisch bin, hab ich verflüssigt, unnötige Adjektive gestrichen.

PK Dystopien boomen auf dem Buchmarkt. Deine aber schwingt in der Mitte des Buches um in eine knallbunte Utopie, in der sich der gleichgeschaltete Blechbürger jedoch nicht mehr zurechtfindet. Warum konnte Knallmasses Bildungsweg nicht nur als ein Scheitern an den Regeln im Staat des Dröhnens erzählt werden?

UH Äh … hm … Bildungsweg … konnte nicht nur … weiß grad nicht … ahem … komm da nicht ganz mit … irgendwie müßte die Frage anders lauten … frag mich aber nicht, wie …

PK In einer persönlichen Werkübersicht im Text+Kritik-Band Ulrich Holbein (Heft 205) erwähnst du, dass weitere unveröffentlichte Geschichten aus der Welt von Knallmasse existieren. Welche sind das?

Knallmasse-Gemälde
Eines der vielen Knall- und Biomasse-Gemälde von Ulrich Holbein

UH An Knallmasse schrieb ich 1986 sechs Wochen; an Biomasse zwei Jahre, 1984 — ein Leselibretto für Marstheater; handelt in Sarastralien, in DeziBel, im kunterbunten Weltall und im Reich der gebogenen Halbinseln, wo frühere Wulwiletten-Inkarnationen als Eunuchen im alten China durch daoistische Zauberkreme ihre Potenz wiederfinden möchten. Ein Schubladenmanuskript, realisiert als dreistündiges Schubladenhörspiel, für 20-30 Laiensprecher und Berufsmusiker im Alter zwischen 3 und 65.

PK Knallmasse ist dein erster Roman und dein einziger weitgehend konventioneller. Warum wirst du seither mit durchgehenden Romanhandlungen nicht mehr warm?

UH Die monströsen Probleme des Zeitalters sind seit ca. 70 oder 90 Jahren nicht mehr plausibel darstellbar durch familiäre Kleingruppen, abzählbare Figurenensembles, namentlich nicht durch Autoren, die mit ihren Zielgruppen unschön identisch wurden. Das hat aber keiner der heutigen Belletristik-Insider und Ambitions-Romanciers mitbekommen, da sie nur ganz gewöhnliche Leute sind, sich allesamt nicht mehr auf den facettenreichen Bewußtseins-Hochplateaus von Joyce, Valery, Döblin, Adorno, Nabokov, Schmidt, Lem bewegen, also eher Popsongs, Linolschnitte, Siebdrucke, Unterbietungsprosa abliefern, statt Ölgemäldezyklen und Universums-Symphonien. Den mentalen Begrenztheitsanteil, der normales neolithisches Erzählen am Lagerfeuer ermöglicht, mag ich ohne weiteres nicht aufbringen, versuch der allgemeinen Formniveau-Misere aber diverse Schnippchen zu schlagen, um rauszukommen aus dem Entweder-Oder-Dilemma zwischen linearem Plotroman einseitigkeitsverfallener Handlungs- und Funktionspuppen und globalismusadäquatem Sprachkunstwerk … so ungefähr …

Wir bedanken uns herzlich beim Autor! Weitere Informationen zu Knallmasse finden Sie hier:

Ulrich Holbein: Knallmasse