Der Kriminalroman ist die einzig wirklich moderne Form des Romans.
Gertrude Stein
Sherlock Holmes und Father Brown: Zwei Ermittler, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Ersterer als Verfechter von wissenschaftlicher Methodik und Akribie, Letzterer im Vertrauen auf sein Einfühlungsvermögen und Gott. Beide sind sie Auswüchse zweier genialer Geister, Arthur Conan Doyle und Gilbert Keith Chesterton, deren gegensätzliche Weltanschauungen sich in ihren Figuren manifestieren. Auch zum Genre der Kriminalliteratur, an dessen Konstituierung sie maßgeblichen Anteil hatten, vertraten sie ganz unterschiedliche Ansichten – die stellvertretend für die bis heute herrschenden Meinungen stehen.
Arthur Conan Doyle war arm und brauchte das Geld
Doyles Verhältnis zu seinen Ausflügen ins Kriminalmilieu blieb ein Leben lang zwiespältig. Er kannte zwar den Nervenkitzel eines aufreibenden Falles und mischte sich sogar realiter in Prozesse ein. In ihrer Verschriftlichung waren ihm Kriminalgeschichten jedoch in erster Linie ein Zeitvertreib. Weitaus lieber wandte er sich dem Abenteuergenre und – später – dem Spiritismus zu. Damit schloss er sich dem allgemeinen Tenor der Zeit um 1900 an: Der Kriminalroman hatte einen schweren Stand, wurde stets als reine Trivialliteratur abgetan. Seinen Kritikern war er zu schematisch und banal, um ernst genommen zu werden – Vorwürfe, mit denen er sich trotz der im Laufe der Zeit gewachsenen Riege von bedeutenden Fürsprechern wie Friedrich Dürrenmatt und Bertolt Brecht bis heute auseinandersetzen muss.
Gilbert K. Chesterton griff zur Feder, um den Krimi zu verteidigen
Der korpulente Chesterton – dessen Diskussionsfreudigkeit in den augenzwinkernden Auseinandersetzungen mit dem dürren George Bernard Shaw Popularität erlangte (»Chesterton: I see there has been a famine in the land. Shaw: And I see the cause of it.«) – sprang dagegen nicht nur in seiner Position als Präsident des Detection Club mit seiner ganzen Leibesfülle für das beliebte, aber vielgescholtene Genre in die Bresche. In seiner Streitschrift Verteidigung von Detektivgeschichten findet er zeitlos gültige Argumente:
Will man auf den wahren psychologischen Grund für die Verbreitung von Detektivgeschichten kommen, ist es notwendig, sich von einer Menge bloßer Phrasen freizumachen. Es ist beispielsweise nicht wahr, dass die Bevölkerung schlechte Literatur guter vorzieht und zu Detektivgeschichten greift, weil sie schlechte Literatur sind. Der bloße Mangel künstlerischer Feinheit macht ein Buch nicht populär. Das Telefonbuch enthält wenig Lichter psychologischer Komödie, und doch wird es nicht fieberhaft an Winterabenden laut vorgelesen. Wenn Detektivgeschichten überschwänglicher gelesen werden als Telefonbücher, geschieht es sicher, weil sie künstlerischer sind.
Ein angeblich geringer literarischer Wert ist demnach kein konstituierendes Merkmal für Kriminalliteratur. Wie in jedem anderen Genre ist die ganze Qualitätsbandbreite vertreten. Wer würde einem Matto regiert vorwerfen, schlechte Literatur zu sein? Literarische Qualität scheint nur in zweiter Instanz Auswirkungen auf den Erfolg von Kriminalliteratur zu haben. Was aber macht dann eine Kriminalgeschichte aus?
Der wesentliche Hauptwert der Detektivgeschichte liegt darin, dass sie die früheste und einzige Form populärer Literatur ist, in der sich etwas Sinn für die Poesie modernen Lebens geltend macht.
Wichtigster Bestandteil des Kriminalromans ist das Setting. Ein guter Krimi fühlt sich echt an: Er lebt davon, gesellschaftliche Strukturen aufzudecken, zu beschreiben, zu kritisieren – je näher am Leben, desto überzeugender, desto beeindruckender auch die Geistesblitze der Ermittler. Das London eines Sherlock Holmes, so stilisiert es auch sein mag, hat auch nach über 100 Jahren nichts von seiner Glaubhaftigkeit eingebüßt.
Auch noch ein anderes gutes Werk wird durch die Detektivgeschichten getan. Während es die ständige Neigung des alten Adams ist, gegen etwas so Allgemeines und Automatisches wie Zivilisation zu rebellieren, Lossage und Aufruhr zu predigen, bringt das romantische Polizeiwesen in gewissem Sinne die Tatsache zum Bewusstsein, dass die Zivilisation selbst die sensationellste Lossagung und der romantischste Aufruhr ist.
Mörder und Diebe als Form des Wilden und Archaischen, der Rechtsstaat als akrobatischer Akt: Kriminalliteratur macht deutlich, auf welch schwankenden, schützenswerten Säulen unsere gesellschaftlichen Errungenschaften stehen. Obwohl das im ersten Moment den Anschein von Sozialdisziplinierung erwecken mag, übt der Krimi häufig genug Kritik an den bestehenden Verhältnissen und verfolgt utopische Ideale. Kein Wunder also, dass er in totalitären Systemen wie dem deutschen Nationalsozialismus verpönt war.
Kriminalromane sind aus zeitgeschichtlicher Perspektive und hinsichtlich ihrer Aktualität hochinteressant. Auch Arthur Conan Doyle würde einsehen: Es ist engagierten Verteidigern wie Chesterton zu verdanken, dass wir heute noch die Geschichten um Sherlock Holmes und seine Vorgänger und Nachfolger lesen.