uneigentlich: Physik

Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle.
Albert Einstein

 

Man hat den Ruf bereits vernommen: zur zweiten Ausgabe der Seitenstechen haben der homunculus verlag und ELINAS, das Erlanger Zentrum für Literatur- und Naturwissenschaft, einen Textaufruf gestartet, der mit Dunkle Energie überschrieben ist. Wer sich im sinnbildlichen literarischen Wald aufhält, in und an welchem sich das Echo bricht, der ist aufmerksam geworden. Hier führen Wege unter weit verzweigtem Geäst zusammen, die kaum ausgetreten sind. Wer an dieser Stelle zum Reisegefährten wird, der folgt einem schmalen Wildwechsel. Wo Physik und Literatur aufeinandertreffen, wird es abseitig und selten – stets vereint durch die (gleichfalls unergründbare) Energie des Uneigentlichen.

Es ist wahr: der metaphorische Reichtum der Physik ist enorm. Konsens ist der nicht zu verwechselnde Unterschied zwischen algebraischer Zeichnung und bildhaftem Begreifen, wobei durchaus das eine ohne das andere auftritt, dabei aber – im Alleingang – stets seine Schwächen offenbart. Die rhetorische Metapher muss überall dort als Modell hervortreten, wo wir dem kaum Beschreiblichen und zu Komplexen begegnen. Die Physik beschreibt Modelle des Wahrgenommenen und ist dabei viel mehr auf Vokabular als auf die Algebra angewiesen, da Begreifen über den wortverwandten Begriff funktioniert, der dem Bezeichnen ein Bruder ist – schließlich: ein Zeichen zu finden in Laut und Bild für das Modellierte, das ansonsten unbegreifbar (das ist: nicht zu ertasten) und unplastisch zurückbleibt. Eigentlichkeit (das Konkrete) und Uneigentlichkeit (die Metapher) sind Begriffe der Rhetorik und Semantik, die leider noch nicht weit genug in das Allgemeinverständnis der mathematischen Kunst vorgedrungen sind. Dabei ist wohl keine andere Disziplin zu derart ungemein wundersamen Kuriositäten befähigt, die aus eben jenem Unterschied entspringen – dabei denke man an das oft genannte Beispiel eines Bogenschützen, dessen Pfeil nie das Ziel erreicht, setze man für dessen Flug nur eine geeignete Funktion an: Der Pfeil legt in einer gewissen Zeit (x1) die Hälfte der Strecke (y1) von der Bogensehne zur Zielscheibe zurück. Es bleibt ein Rest der Strecke, wovon er wiederum zu einem Zeitpunkt (x2) die Hälfte der Strecke zurückgelegt hat (y2). Wir erkennen der Ergebnis der Funktion: Der Pfeil erreicht niemals die Zielscheibe.

Maßgeblich für den Anspruch in der Physik ist dies eine (frei nach Nietzsche): Sie muss den Schein als Schein, das Uneigentliche als Uneigentliches begreifen, um wahr zu bleiben. Die Vernichtung der Konsistenz dieser Disziplin wäre, den Schein als Tatsächlichkeit und damit als verkappte Täuschung zu verorten. Ersteres ist eben jenes dominante Trittsiegel unseres Wildwechsels verzweigter Pfade, dem wir folgen müssen.

Die Literatur und die Physik sind schon allein aufgrund ihrer Verfahren zur absoluten Verbrüderung fähig. Gerade die sehr junge Idee der Dunklen Energie bespielt diesen Bereich. Wir werden abstrakt, wenn wir Uneigentlichkeiten von Uneigentlichem ableiten. Genau dies geschieht in nämlichem Fall: Die Vorstellung des Urknalls (eine Rückzüchtung aus dem Modell des Schwarzen Lochs) erzwingt eine Erklärung für die beschleunigte und zufriedenstellend nachweisbare Expansion unseres Universums. Es bleibt nichts weiter, als eine quasi geheimnisvolle Energie anzunehmen, die als Rückstoß des großen Knalls die Beschleunigung hervorruft: unentdeckt, spurlos, schweigsam, unsichtbar. Hier ist ein Phantom am Werk, abgeleitet und erzwungen von der kollektiven Akzeptanz einer Idee des Anfangs. In der Emulsion dieses metaphorischen Großwerks setzt sich als Niederschlag all jenes ab, was wir bereits erkannt haben: das Uneigentliche, das Metaphorische – es schlägt sich nieder die Idee eines Anfangs, die Blindheit und die Kraft der Phantastik. Dem Beobachter stellt sich an dieser Stelle die unlösbare Frage nach Zeichen und Bezeichnetem, nach Vorstellung und Tatsächlichkeit.

Und an eben jener Stelle tauchen wir ein in den Schwindel der Betrachtungen, in die Stimmen der Literatur. Dort finden wir den Unort unserer Zusammenkunft. Hier – genau hier – benötigen wir die Literatur, wo wir sie selten finden und wo sie doch so notwendig ist!

Deshalb: Seitenstechen #2!

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